cigar | Harte Köpfe im rauen Wind
Aus Cigar 2/2016
Auf Achse

Harte Köpfe im rauen Wind

Ortstermin in Chermignon, im Reich der wilden Tiere. An einem Kuhkampf sieht man archaische Rituale, wie es sie sonst nur in Sagen gibt.

Text: Claudio Zemp
Fotos: Tina Sturzenegger

Tier loslah bitte.» Aufs Kommando des Speakers ist man mittendrin. 18 schwarze Ungetüme stehen im Ring, alle hübsch beschellt und mit Hörnern. Man weiss gar nicht, wohin schauen, so viel passiert: 135 schäumt und bockt irr. 151 jagt 139. Und 126 hat schon eine blutige Nase. Die Nummern sind mit weisser Farbe auf die Flanke der Kühe gemalt. Kriegsbemalung und Startnummer in einem. Die 16 guckt vorerst zu, bis sich ihre übermotivierten Gegnerinnen etwas die Hörner abgestossen haben. Drückt sie sich? Nein, sie ist eine kluge Kämpferin und wartet, bis sich das Feld gelichtet hat. Wenn ihr eine andere zu nahe kommt, braucht sie nur im Sand zu scharren, damit alle einen Bogen um sie machen. Jede Kuh ist hier eine Königin, jedenfalls bis sie draussen ist. «Nummer siebe abfiehre, bitte», tönt es aus den Lautsprechern, während sich 148 und 135 Kopf an Kopf verhakt haben. Ein Infight! Stirn an Stirn stossen sie sich mit ihrer ganzen Kraft, Zentimeter hin und her. Schädelzucken, Kuhauge an Kuhauge, Schnauben, es ist eine Freude, zuzuschauen.

Der Wind weht rau und stetig an diesem Frühjahrssonntag durch Chermignon. Das Pamplona der Schweiz liegt im wilden Wallis zwischen Lens, Montana und Siders. Es ist kein wirtlicher Tag, aber an einem «Match» schert sich niemand ums Wetter. Es ist ein Festtag für Athletinnen und ihre Besitzer. Reihenweise stehen die schwarzen Viecher am steilen Hang des Trichters. Daneben campen die Besitzerfamilien. Unten beim Zelt führen die Tierärzte derweil Kontrollen durch. Es geht nicht etwa um Doping. Doch jede Kämpferin muss trächtig sein, wenn sie in den Ring will. So will es das Reglement. Man wird auch unschöne Szenen sehen hier in Chermignon, ja. Aber so ist sie eben, die Natur. Nur schon darum hat sich die lange Anfahrt gelohnt, um sich vor Augen zu führen, dass es einem doch besser geht als dem durchschnittlichen Rindvieh. Und die Walliser Bauern machen das schon richtig. Sie steigen nichtselber in die Hosen und gehen sich im Sägemehl an den Kragen, sondern lassen ihr Vieh die Kämpfe austragen. So ein Stellvertreterkampf ist eine höhere Entwicklungsstufe.

«Tequila» ist so ein ungeschminkter Dickschädel, ihr Kampf steht noch bevor, die Nummer 18 ist schon aufgemalt. Der junge Bauer Michel Cordonier aus Lens strahlt und erzählt aus dem Nähkästchen einer Eringer-Züchterfamilie. Tequila gehört dem Onkel Pascal, man ist «en famille» am Match engagiert. Wie trainiert man eigentlich? Man gibt der Kuh Kraftfutter und joggt am Morgen mit ihr, sagt Cordonier: «Das gefällt ihr auch nicht immer.» Die Kuh hat ihren eigenen Kopf. Und das ist beim Kampfsport entscheidend, zur Kondition kommt das Mentale. Wie stärkt man die Moral? «Man lässt sie gegen eine Gegnerin antreten, gegen die sie sicher gewinnt», sagt der Bauer augenzwinkernd. Solche Aufbaukämpfe spielen sich in jeder Herde im Frühjahr auf der Alp ab, seit Menschengedenken.

Eine unverhoffte Einsicht weht herbei: Das Leben ist im Grunde verschissen, aber aus der Touristenperspektive herrlich schön. Kein Wunder sind Kuhkämpfe populär. Bei so archaischen Angelegenheiten ist jeder Schritt Abstand ein Gewinn an Genuss. Wobei: Ganz trennen kann man das ja nie, plötzlich zieht es einen hinein. Jetzt geht die Action in der Arena weiter. Man fiebert mit der Nummer 77, die wie von der Wespe gestochen durch den Ring jagt. Eine Strategie, die sich nicht auszahlt, Kopfschütteln über die typische Ernstkampfnervosität. Nun wird die 46 vom Speaker aufgefordert, das Feld zu verlassen, schade um die Schöne. Und dann, als nur noch die sechs Überlebenden des Vorkampfs im Ring stehen, passiert es. Beim Verlassen der Arena gibt es ein Techtelmechtel unter Tieren, eine Kuh hat wohl den Gong nicht gehört, greift die Rivalin fies von der Seite an. Und schon geraten sich auch die zwei Besitzer in die Haare. Einer fällt sogar hin, im Pulk. Ei, herrlich, wie sie mit Leib und Seele dabei sind.

Für Frédéric Tuberosa und seine Promesse ist der Match schon vorbei.
Sie beissen nicht: Die kräftigen Königinnen sind ein Touristenmagnet.
François hütete einst Schafe, nun hat er sein Herz an die Eringer verloren.


«Im Wallis kann man nicht mehr leben von der Landwirtschaft», sagt der Besitzer später, sein Name steht im Matchblatt, aber er hat ihn «vergessen». Der Bauer hat sich inzwischen beruhigt und es ist ihm peinlich, dass er vorher im Ring die Nerven verloren hat: «Das dürfte nicht passieren.» Aber alle wissen, wie lang der Weg bis ins Finale sein kann. Zwei Drittel scheiden schon in der Vorrunde aus, nur die stärksten Siegerinnen von Chermignon qualifizieren sich für das kantonale Finale von Aproz. Die meisten Züchter haben mehrere Tiere im Rennen, die schwersten sind mehr als acht Zentner schwer. Da musst du schauen, dass sie dir nicht auf den Fuss tritt», sagt ein Züchter. 719 Kilo wiegt seine «Colombe», ein schweres Täubchen. Das Tier vertreibt sich die Zeit am Pflock, indem es mit der Schnauze ein Loch in den Berg buddelt. Eine ganze Angsthasenfamilie hätte darin locker Platz. Vielleicht ein Foto mit Colombe und dem Besitzer? Nein, die lassen wir lieber angebunden.

Nebenan flirtet François mit einer Touristin aus Dänemark, die ein Foto mit ihm und seinen schönen Tieren will. Der Hirt trägt keinen Nachnamen, auf der Alp genügt der Vorname. Die Touristin hat ein Hündchen dabei und logiert in Crans-Montana, «la station des riches», so François. Er stammt aus den Pyrenäen, hütete früher Schafe, verlor aber sein Herz an die Eringerkühe und verbringt seine Zeit seit sieben Jahren mit ebendiesen. Edel und sensibel seien sie vom Gemüt, sagt François, während er sich eine Kuhhirtenzigi nach Pyrenäenart ansteckt. Dann setzt er an, mir die Alpausmarchung zu erklären, doch er gibt mittendrin auf: «Es ist nicht so einfach, wie es aussieht.»

Zurück in die Arena, es geht weiter. Auf dem Weg ist darauf zu achten, dass man an der Tränke keiner Bestie in den Weg tritt. Der Kampf ist schon voll im Gang. 120 ist rauflustig, sie legt sich mit jeder an, das kann nicht gut gehen. Daneben hat 166 mit 154 eine Gegnerin von Format gefunden. Sie tanzen ein paarmal Tango, die Köpfe verhakt, hin und her, dann weicht 154 – welche ist jetzt die klügere Königin? «Merci à participer à la 154, 154 abfiehre bitte.» Wer dreimal verliert, ist draussen. Ab und zu lässt der Kampfrichter zwei ebenbürtige Eringerkühe, die sich aus dem Weg gehen, zueinander führen: «Approchez la 120 et la 123.» Das Kommando geht an das halbe Dutzend Cowboys, die leichtfüssig mitten im Getümmel für Ordnung sorgen. Sie sind in ihren roten Poloshirts meine wahren Helden von Chermignon. Näher an die Aura eines Stierkämpfers kommt man in der Schweiz nicht. Rauchend stehen die Jungs zwischen den kämpfenden Kühen, da muss man den Kopf bei der Sache haben, jeder hat einen Stock für den Notfall. Ständig müssen sie eingreifen. «Évacuer la 164. 164 abfiehre»: Das ist einfacher gesagt als getan, 164 will weiterkämpfen. Gegen die quadratische Kampfkiste kommen selbst die stärksten zwei Cowboys nicht an, einer links und einer rechts, keine Chance. Die Kuh muss selber merken, dass es vorbei ist.

Für «Promesse» und «Darling» ist es auch gelaufen. Ihr Besitzer Frédéric Tuberosa nimmts gelassen, trinkt mit seinen Leuten «un coup de blanc». Früher habe man ja ab und zu eine Kuh mit Fendant gedopt, geht die Sage. Mit dem Effekt, dass auch mal eine im Ring eingeschlafen sei. Es sind halt doch keine Kampfmaschinen. Aber man ist trotzdem froh, keinen Eringer-Stier zu sehen, so wie diese Rinder gebaut sind. Die schwarzen Eringer werden schon lange zum Sport gezüchtet. Die Milchleistung ist Nebensache, obwohl es pro Alp einen Trostpreis für die Milchkönigin gibt. Nun begrüsst der Speaker in einer salbungsvollen Ansprache Politprominenz. Alle hohen Tiere des Wallis sind auf dem Platz, und er dankt den Bauern, die vom Frühtau bis zum Abend hart arbeiten, für Gottes Lohn und ein bisschen Spass. Im Festzelt spielt ein Alphornduo zum Apéro. Und so geht es weiter, bis die Sonne untergeht. Man wird mit offenen Armen empfangen, solange man nicht in die Arena trampt. Aber das käme keinem Vernünftigen in den Sinn. Das wars, auf Wiedersehen im nächsten Frühling, wenn es wieder heisst: «Lâcher le bétail


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