cigar | Der Kellermeister
Aus Cigar 3/2015
Speis & Trank

Der Kellermeister

Das einzige Mal, dass Hans Rhyner eine Zigarre rauchte, war im Burgund. Sie setzte seinen fein kalibrierten Geschmackssinn für eine Woche ausser Gefecht.

Text: Tobias Hüberli
Fotos: Marcel Studer

«Ich konnte einen Beaujolais Nouveau nicht mehr von einem Grand Cru der Top-Produzenten unterscheiden.» Zigarren sind für den 60-Jährigen seither ein rotes Tuch. Denn wenn der kürzlich pensionierte Zugführer der SBB einen Wein für gut oder für schlecht befindet, dann hat das in der Schweizer Weinszene durchaus Signalwirkung. Hans Rhyner ist nicht nur Kellermeister, sondern auch geistiger Vater des wohl bekanntesten Weinkellers der Schweiz. Dieser liegt im Untergrund des Gasthauses zum Gupf im appenzellischen Rehetobel und umfasst rund 30000 Flaschen mit 3000 Positionen. «Der Keller ist der Wahnsinn, er ist monumental, vor allem aber hat er eine Geschichte», sagt Rhyner stolz.

Diese beginnt 1998 mit einem Anruf. Migg Eberle, Inhaber des «Gupf», hat gehört, dass der SBB-Kondukteur mehr von Wein versteht als mancher Sommelier und fragt Rhyner, ob er – in seiner Freizeit – einen Weinkeller aufbauen wolle. Und zwar nicht irgendeinen, sondern den besten und schönsten der Schweiz. Budgetvorgaben gebe es keine. Rhyner sagt zu und bestellt für den Anfang mal 40000 Flaschen auf 1700 Positionen, reduziert den Bestand aber bald auf 30000 Flaschen. «Am Anfang fragte ich mich schon, ob da wohl Leute den langen Weg auf den Hügel oberhalb von Rehetobel machen, um all den Wein zu trinken.» Die Sorge ist unbegründet. Unter den Küchenchefs Walter Klose und Daniel Humm sowie seit 2003 wieder mit Klose sichert sich das mit einer selten schönen Aussicht gesegnete Restaurant eine treue Klientel, die auch mal mit dem Helikopter anreist.

Seine allererste Kiste Bordeaux kauft sich Rhyner während seiner Lehrzeit als Bauzeichner. Der Vater seiner damaligen Freundin rät dem 17-Jährigen, alle drei Monate sechs Flaschen zu kaufen. «Ich war immer der Meinung, dass man von älteren Menschen lernen sollte, darum folgte ich seinem Rat. Mit einem Unterschied: Ich kaufte jeden Monat eine Kiste», erinnert sich Rhyner. Drei Jahre später ist die Freundin keine mehr, dafür lagern im Keller 48 Kisten Bordeaux, zum Beispiel ein Château Palmer Jahrgang 1972, den Rhyner für 21 Franken die Flasche erstanden hat. Heute wird dieser Wein für mindestens das Achtfache gehandelt.

Hans Rhyner wächst in St. Gallen auf. Dort trifft er auch seine Frau. Dort ziehen sie ihre zwei Töchter gross. Und dort wohnen sie noch heute. Nach der Lehre als Bauzeichner heuert Rhyner 1975 bei den SBB an. Das hat Tradition. Sein Grossvater fuhr noch eine Dampflokomotive und auch sein Vater war ein «Bähnler». «Ich mochte den Kontakt zu den Menschen», sagt Rhyner über seine Zeit bei der Bahn. Später habe er als Zugchef oft Gäste vom «Gupf» getroffen und ihnen zwischen Aarau und Bern gleich noch eine Weinempfehlung auf den Weg gegeben. Wehmütig ist der frischgebackene Pensionär indes nicht. Zurzeit betreut er neben dem Keller im «Gupf» noch Weinkeller von fünf weiteren Restaurants. Zum Beispiel der «Adler» in Fläsch oder des Restaurants Aglio et Olio in Speicher, in dem er die grösste Kleinflaschensammlung der Schweiz eingerichtet hat.

Doch was macht eigentlich einen guten Wein aus? «Er muss sich im Mund erschliessen, einfach so, auch jemandem, der von der Materie wenig Ahnung hat», sagt Rhyner. Ein interessantes Land für Wein sei derzeit Spanien, wegen der grossen Traubenvielfalt, den unterschiedlichen Böden und weil das Preis-Leistungs-Verhältnis sehr günstig sei. Weit weniger euphorisch ist der Kellermeister, wenn er über die berühmten französischen Rebsäfte spricht. «Die Preise der berühmten Grand Crus im Bordeaux oder Burgund sind eigentlich nicht mehr zu rechtfertigen.» Einkaufen tut er sie trotzdem. Mit 14000 Flaschen stellen die französischen Weine im «Gupf» klar die Mehrheit. Die richtigen Trouvaillen findet er aber dort, wo möglichst wenige suchen. «Ich gehe immer dorthin, wo es kriselt, oder in Regionen, von denen man sagt, es gebe keinen guten Wein.» 1998 muss er österreichischen Wein sogar selbst importieren, weil die Weine aus dem Nachbarland nach dem grossen Pansch-Skandal lange Zeit unter Generalverdacht stehen. Und wo sucht er heute nach Unentdecktem? «Südtirol, eine Superregion, für Weissen und Roten.»


Seit zehn Jahren kauft Rhyner keinen Wein mehr aus Übersee ein. Die Entscheidung hat nicht nur einen ökologischen Hintergrund. «Die Amerikaner und Australier schmecken immer gleich gut, es gibt nie ein schlechtes Jahr», erklärt er. Dabei lebe der Wein doch von diesen Schwankungen, von den feinen Unterschieden, je nach Jahrgang. Der Gast soll spüren, dass es sich um ei Naturprodukt handelt.

Hans Rhyner besitzt kein einziges in der Weinwelt relevantes Diplom. Er ist weder Sommelier noch Weinakademiker. «Manchmal kommen Gäste in den Keller und wollen nur mit dem Sommelier sprechen, dann mache ich halt etwas anderes», erzählt er lachend. Sein Wissen hat er sich über die Jahre selbst angeeignet. Mit Fachliteratur, unzähligen Degustationen und natürlich durch den direkten Kontakt zu den Winzern. «Meine Weinkeller rentieren alle, auch weil es viele Schnäppchen darunter hat.» Mit «Schnäppchen» meint er zum Beispiel eine Magnum-Flasche Romanée- Conti Jahrgang 2005, die ein Gast letztens für 17000 Franken bestellt hat. «Wenn ich Wein einkaufe, kalkuliere ich seinen Preis, und der bleibt dann so, auch wenn der Wert der Flasche über die Jahre steigt. Ich spekuliere nicht.»

Der «Gupf» ist deshalb immer wieder Ziel von ausländischen Weinsammlern. Etwa vor vier Jahren, als ein chinesischer Geschäftsmann den gesamten Bordeaux-Bestand des Kellers zum Kartenpreis aufkaufen wollte. Rhyner lehnte ab. «Bei uns gibt es keine Flaschen über die Gasse.» Der Keller des «Gupf» ist in fünf unterschiedliche Sektionen unterteilt. Die ersten drei Sektionen sind den 0,75-Liter und 1,5-Liter Flaschen gewidmet – und einer erklecklichen Sammlung an Portweinen (der älteste noch erhältliche Jahrgang ist 1863). In der Mitte des Raums steht ein Terminal, Rhyner nennt es den «elektronischen Sommelier». Ohne diesen wären die 3000 verschiedenen Positionen wohl nicht innert nützlicher Frist zu finden.

Um aber in die «Schatzkammer» des Kellers zu gelangen, muss zuerst der Grossflaschenkeller, gefüllt mit Drei- bis 27-Liter-Flaschen und – einer – 480-Liter-Flasche, durchquert werden. Der Eingang zur letzten Sektion ist gut versteckt und muss nochmals einzeln geöffnet werden. Hier lagert das «Edelste und Rarste». Natürlich sind sie alle da, die berühmten Namen wie Château Pétrus oder Romanée-Conti; es gibt aber auch Weine wie zum Beispiel den Südtiroler Rotwein «Viribus Unitis», die zwar nicht viel kosten (der «Viribus Unitis ist für 160 Franken zu haben), die aber so selten sind, dass Rhyner ihnen einen Ehrenplatz angedeihen lässt.

Und wie viele Flaschen lagern eigentlich in seinem privaten Keller? «Nicht viele», meint Rhyner. Für Zugführer gelte die Null-Promille-Regel, zum Weintrinken habe er fast keine Zeit gehabt und auch jetzt seien die Gelegenheiten für ein Glas Wein eher rar. «In meinem Keller habe ich nur etwa 1000 Flaschen», meint er dann noch so beiläufig. Hans Rhyners Lieblingswein ist übrigens der «Nit de Nin», ein spanischer Rotwein aus dem Priorat, einer Kleinstproduktion. Die Trauben werden noch mit dem Maultier transportiert und stammen von 80 bis 100 Jahre alten Rebstöcken, deren Ertrag so tief ist, dass es für eine Flasche Trauben 17 Rebstöcke braucht. Von Altem lernt man etwas fürs Leben.

Hans Rhyner (60) war bis vor kurzem hauptberuflicher Zugführer der SBB. Daneben amtet er seit über 15 Jahren als Kellermeister für eine Reihe von privaten und gastronomischen Weinkellern. Der berühmteste darunter ist jener des Gasthauses zum Gupf in Rehetobel, den er 1998 aufgebaut hat. Unter dem mit einem Michelin-Stern und 17 Gault-Millau-Punkten dotierten Restaurant lagern derzeit 30 000 Weinflaschen mit 3000 verschiedenen Positionen. Rhyner, der weder eine Ausbildung zum Sommelier noch ein anderes in der Weinwelt relevantes Diplom besitzt, bestimmt auch die Zusammensetzung des Kellers.

Neben dem «Gupf» betreut Rhyner fünf weitere gastronomische Weinkeller. Und zwar im Restaurant Adler in Fläsch, im Restaurant Va Bene in Chur, im Restaurant Erlengolf in Erlen, im Restaurant Frohe Aussicht in Schwende und im Restaurant Aglio et Olio in Speicher, in dem er die schweizweit grösste Sammlung an Kleinflaschen eingerichtet hat. Im «Gupf» sind Weine in allen Preisklassen erhältlich, vom teuren Bordeaux bis zum weniger bekannten Rioja für unter 70 Franken. Grosse Freude bereiten ihm die Auszeichnungen des Wine Spectators «Best of Award of Excellence» (drei Weinkeller) .

Weinempfehlung von Hans Rhyner aus dem Keller des Gasthauses zum Gupf
Fläscher Weissburgunder 2013 – Weingut Jann Marugg, Schweiz
Rioja «Sierra de Toloño» 2012 – Sandra Bravo Marin, Spanien
Lagrein «Mirell» 2010 – Riserva Waldgries, Italien

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